13.09.2021, 15:37 Uhr

Außenseiter Wildschwein

Die Rückkehr dieser Schlüsselart ist ein Glücksfall für unsere Ökosysteme...ihre Verfolgung trägt bereits absurde Züge, besonders im Zusammenhang mit Afrikanischer Schweinepest...

Dösende Wildschweine - Attraktion von Wildparks gerade bei Kindern. Viel interessanter aber ist ihre Beobachtung in der freien Landschaft
Dösende Wildschweine - Attraktion von Wildparks gerade bei Kindern. Viel interessanter aber ist ihre Beobachtung in der freien Landschaft
© Holger Sticht
Die Rückkehrer sind in aller Munde, gerade bei den Säugetieren. Während aber die Rückkehr von Wolf, Biber oder Fischotter zu Recht allgemein als Gewinn und Glücksfall gesehen wird, tun sich Viele beim Wildschwein schwer. Zu Unrecht.

Auch das Wildschwein (wissenschaftlich Sus scrofa, was übrigens soviel bedeutet wie "Schwein-Mutterschwein") war in weiten Teilen Deutschlands in den 1930er Jahren durch Bejagung ausgerottet. So gab es beispielsweise in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein um 1940 keine Wildschweine mehr.

Knapp einjährige Wildschweinspur mit Silberfingerkraut, Roter Schuppenmiere, Natternkopf und Sandbienennestern
Knapp einjährige Wildschweinspur mit Silberfingerkraut, Roter Schuppenmiere, Natternkopf und Sandbienennestern
© Holger Sticht
In NRW hatte es in mehreren kleinen, voneinander isolierten Gebieten überleben können, zu denen auch die Wahner Heide zählt. Von dort aus startete nach dem Zweiten Weltkrieg die selbständige Wiederbesiedlung, die bis heute anhält - obwohl das Wildschwein nie unter Naturschutz stand.

Diese Erfolgsgeschichte hat mehrere Ursachen. Die Jagd war in den Nachkriegsjahren aufgrund des Verbots des Waffenbesitzes stark eingeschränkt, sodass sich die kleinen Restpopulationen erholen konnten. Dazu trug auch die natürlicherweise hohe Nachkommenschaft beim Wildschwein bei, die allerdings erforderlich ist, um die in harten Wintern hohe Verlustrate auszugleichen. In den letzten Jahrzehnten wirkte sich vor allem die gestiegene Nahrungsverfügbarkeit positiv aus - nicht nur auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen, sondern auch im Wald durch die gehäufte Fruchtbildung bei Eiche und Buche, die mit der Menschen gemachten Klimaveränderung korreliert. Und die Jagd dient längst in erster Linie der Freizeitbeschäftigung, nicht mehr der Nahrungsbeschaffung. Und zu diesem Hobby zählt auch die Hege.

Das gefährdete Hundsveilchen auf einem im Jahr zuvor durch Wildschweine bearbeiteten Sandmagerrasen
Das gefährdete Hundsveilchen auf einem im Jahr zuvor durch Wildschweine bearbeiteten Sandmagerrasen
© Holger Sticht
Die französische, nach der leitenden Wissenschaftlerin benannte "Servanty-Studie" von 2009 belegt anhand 22 Jahre währender Forschung, dass die Vermehrungsrate in nicht bejagten Beständen niedriger als in bejagten liegt. Darauf deutet auch die Jagdstrecke (durch Jäger pro Jagdjahr getötete Tiere) hin: beim Wildschwein nimmt sie in NRW bei nahezu flächendeckender Jagd im Außenbereich kontinuierlich zu, während die Zahl der Konflikte steigt.

Inzwischen hat das Wildschwein sogar ein "Image-Problem". Dabei ist es eine wichtige Schlüsselart in unseren Ökosystemen, u.a. weil sie durch ihre Wühltätigkeit Rohböden schafft, die für zahllose Artengemeinschaften, z.B. für konkurrenzschwache Pionierpflanzen und zahlreiche Wildbienenarten, unersetzlicher Lebensraum sind.

Mobiler Elektrozaun an Maisacker in der Eifel
Mobiler Elektrozaun an Maisacker in der Eifel
© Holger Sticht
Die Konflikte mit der Landwirtschaft können - mit mehr Aufwand, aber dafür effektiv - durch mobile Elektrozäune deutlich gemindert werden. Sie beugen landwirtschaftlichen Schäden vor und entziehen den Wildschweinen gleichzeitig eine künstliche Nahrungsquelle. Das ist wichtig, da die Größe und Dichte der Wildschweinbestände in erster Linie über die Nahrungsverfügbarkeit gesteuert werden, nicht über natürliche Beutegreifer. Erst recht nicht durch Jäger, die meinen, diese Beutegreifer ersetzen zu können. Zunehmend rücken Wildschweine aber auch dem Menschen "auf die Pelle". Denn die intelligenten Tiere lernen schnell, dass die jagdlich befriedeten Siedlungsbereiche für sie sicherer sind als der Außenbereich, wo sie meist stark verfolgt werden.

Die Forderung nach mehr Jagd verstärkt das Problem, das zeigen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Erfahrungen der vergangenen Jahre. Die Lösung ist neben der Anpassung der Zaunanlagen an den Siedlungsrändern die Beschränkung der Jagd auf Randzonen des Außenbereichs, und auch hier höchstens auf einjährige Tiere. Denn wenn die Sozialstruktur der Wildschweinverbände im wahrsten Wortsinn "zerschossen" wird, führt dies erfahrungsgemäß dazu, dass mehr weibliche Tiere früher trächtig werden.

An Absurdität ist die mit der Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest (ASP) begründete Verfolgung des Wildschweins inzwischen nicht mehr zu überbieten. Nachdem die CDU-FDP-Landesregierung die Schonzeit für sämtliche Wildschweine in 2018 aufgehoben hatte, erlaubt ab 30. Januar 2021 die ASP-Verordnung zusätzlich die Bekämpfung von Wildschweinen mittels künstlicher Lichtquellen und Nachtsichtgeräten. Absurd, da es keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Populationsdichte von Wildschweinen in nicht betroffenen, räumlich weit entfernten Gebieten und der Ausbreitung von ASP gibt. Bekannte Ausbreitungswege sind laut Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit Jagdausübende, Fleischkonsumenten, Tiertransporte, Fahrzeuge, landwirtschaftliche Geräte, globaler Warenverkehr u.ä. D.h. durch die Jagd und v.a. mehr Jagd wird die Ausbreitung eher erleichtert. Zum Anderen leistet die künstliche Reduktion von Wildschweinpopulationen keinen Beitrag zur Vermeidung der Ausbreitung, da die jagdlichen Eingriffe (wie oben erläutert) bisher nachweislich zur Förderung der Bestandsgrößen des Wildschweins beigetragen haben.

"Absurdistan" in Nordrhein-Westfalen! Man könnte sich über dieses überbordende Maß an fehlgeleitetem Aktionismus amüsieren, hätte es nicht absehbar fatale Folgen für die eh schon arg gebeutelte biologische Vielfalt. Durch den Ausfall der durch Wildschweine erzeugten natürlichen Requisiten und durch die dauerhafte und intensive Störung auch streng geschützter Arten während ihrer Fortpflanzungszeiten selbst in Naturschutzgebieten.

HS